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Eisbaden auf Rügen: Ein finnischer Busen am Ostsee-Meer

Kalter und schöner Wintermorgen in Göhren

Als ich mich mit meiner Nachbarin zum frühen Gang an den Strand verabredete, ahnte ich nicht, dass dies nicht nur der schönste Morgen des Winters, sondern auch der Kälteste werden sollte.

„Minus 9 Grad“, flüsterte sie mir zu als wir uns vor der Haustür trafen. Sie flüsterte vor Respekt, vor der Temperatur, die wir so noch nicht erlebt hatten in den letzten Wochen und aus Rücksicht vor den noch schlafenden Mitbewohnern rundum, denn – es war noch finster, die Mondsichel noch zu erkennen und wir die einzigen Zweibeiner auf der Straße.

Ich betone, Zweibeiner, denn unsere Katze hatte ihre Begleitung angeboten nur bis zur Kreuzung, die eindeutig zum Strand führte. „Boah – kaltes Wasser“, verstand sie sofort und war weg.

Meine Nachbarin ist Finnin

An diesem Morgen eindeutig zu identifizieren über den Henkelkorb, mit dem sie – bestückt, wie eine Marketenderin – zur Tat schritt.

Ein Henkelkorb, wie aus einem finnischen Märchenbuch, geflochten aus Birkenrinde und so alt, wie die Oma, die ihr dieses Stück ehrliche Handarbeit einst vermachte. Aber, dazu später.

Finnen, das wissen wir, haben nicht nur ein besonderes Verhältnis zu eiskaltem Wasser, sondern zur Natur überhaupt. Mit letzterer Instanz muss sie sich verabredet haben, denn, was wir an diesem frühen Morgen dort am Ostseestrand von Göhren erleben durften, waren Wasser-Licht-Impressionen von fast unglaublicher Schönheit, unwirklichen Farben, Mythos Natur. Aber auch dazu später.

Die Eisbaderin aus Göhren

Was meine Nachbarin nun vorhatte, lässt sich kaum beschreiben, schon gar nicht nachempfinden: denn, am Göhrener Südstrand angekommen, blieb nur wenig Zeit zur Besinnung.

Kurze Verschnaufpause, tiefe Atemübungen, und, während sich der Horizont ganz sachte färbte, das finstere Eiswasser der Ostsee seinen silbernen Schleier aufsetzte, pellte sich meine Nachbarin aus ihrer Vermummung.

Ehe wir uns, der Schneestrand und das Eiswasser, besinnen konnten, stand dieses finnische Unikat splitterfasernackt am Ufer. Selbst die Sterne machten verschreckt einen Schritt nach hinten, ins Abseits, weg waren auch sie.

Anbaden im Eiswasser

Mitnichten meine Nachbarin. So gesehen, gab es jetzt nur noch sie, wie sie durch das Eiswasser in das perlmutte Morgenlicht immer weiter in die Ostsee schritt, zwei, drei Schwimmzüge machte und dann wieder an den Strand gelaufen kam.

Selbst der Leuchtturm von der Insel Oie riss erstaunt die Augen auf und sendete einen Morgengruß zu uns beiden, zur Eisbaderin und zu mir, der Zuschauerin am eisigen Land.

Unwirkliches Farbenspiel auf der Insel Rügen

Flink abgetrocknet und wieder eingemummelt ging es dann an der Bucht weiter zu einer besonderen Ecke in den Dünen, wo angespülte Holzstämme ein wenig Schutz gegen den kalten Wind boten.

Ich hatte Sorge, dass die heftigen Minustemperaturen zu streng für die Nachbarin sein könnten, aber, sie schmunzelte: „Nein, überhaupt nicht, der ganze Körper kribbelt schön warm vom Kopf bis in die Zehen!“.

Vielleicht war auch keine Zeit, auf derartige Befindlichkeiten zu achten, denn das frühe Licht an diesem Wintermorgen auf der Insel Rügen kippte ein ganzes Kaleidoskop an Farben aus, wie ich es so noch nie gesehen hatte.

War das alles echt? Ich konnte nicht genug fotografieren, dachte immer nur: „Das glaubt mir kein Mensch…“.

Strandcafé? Kaffee am Strand!

Aber, nun war Zeit für eine kleine Rast und jetzt kam der Henkelkorb zum Einsatz: Neben Isoliermatte und Wasserflasche wurde ruck zuck ein kleiner Gaskocher ausgepackt, das passende Kännchen dazu, Kaffepulver eingefüllt und genauso schnell, wie die Eisbaderin ihren Ostseegang absolviert hatte, köchelte hier am Strand, in wohnlicher und sehr naturverbundenen Küchenkultur, der Morgenkaffee.

Natürlich wollte ich wissen, ob dieses Eisbaden wohl eine Tradition ihrer finnischen Familie sei, etwas, was zu ihrem Leben dazu gehört, wollte es bestätigt wissen, das Klischee der Finnen, die am Eisloch sitzen, wie unsereins im Fernsehsessel. Egal, ob sie beim Eisangeln sind, was sie sehr gerne machen oder, ob sie tatsächlich rein springen… Aber, meine Nachbarin lachte nur.

„Nein“, sagte sie, „Du bist schuld. Als ich dir damals mal erzählte, dass ich frühmorgens immer an den Strand gehe, um mit Wasser, Wellen und Wind mich zu reinigen, meditativ zu gesunden, da sagtest du zu mir: ‚Na, wenn du am Strand stehst, kannste auch baden gehen. Weil unsere Ostsee heilt. Nach innen und nach außen.‘“. Aha, dachte ich, deshalb also stehe ich jetzt hier. Ich immer mit meinen Sprüchen.

Heilwerden im Ostseewasser

Und dennoch ist es so, dies eine zieht das andere nach. Bin ich doch selber gerne 9 Monate im Jahr in der Ostsee so oft es geht, weiß ich doch, wie sie die Seele erfrischt und die Gedanken reinigt. Und wie heilsam ein Gang am Spülsaum für die Atemwege ist oder ein Wannenbad mit Ostseewasser für Hauterkrankungen.

Wie auch immer – Ostsee tut gut, für jeden auf seine Weise. Für meine Nachbarin ist ihr allmorgendlicher Gang an den Strand, inklusive Kaffeekochen, ein Ritual, das vor allem eins bewirkt: sie fühlt sich wohl, gesund und beschenkt.

Und wer würde schon freiwillig auf diese hochkonzentrierte Mischung aus „Wellness-Elementen“ verzichten, wenn sie doch vor der Haustür liegen.

Eine Portion Lebensglück als Geschenk. Da bleibt nur noch ein großes „Danke“.