Touristenrummel in Ruhpolding?
„Woas is döis?“, fragte uns der Menkenbauer, als wir endlich, nach 1200 km-Fahrt, auf seinem großen, alten Bauerngehöft einparkten. Während auf unserer Insel (Rügen) die Herbstsaison boomt, immer noch der Bär steppt, machten wir uns vom Acker Richtung Süd-Ostdeutschland.
„Prima“, sagte meine Mann, als ich ihm das Tour-Set vom Berchtesgadener Land zeigte, „da wollte ich schon immer mal hin.“.
Der Leitsatz der Chiemgau-Karte ließ seine Augen aufleuchten: „Egal, welcher Urlaubstyp Sie sind – Gipfelstürmer, kulturinteressiert, erholungssuchend, sportbegeistert oder umweltbewusst – diese Erlebniskarte für Ruhpolding, Inzell und Umgebung bleibt garantiert nicht unbenutzt!“.
Wie recht sie hatten, mit dieser Aufzählung, in deren Punkte wir uns allesamt wiederfanden. Punkt. So gesehen Ende September.
Wenige Wochen später fügte Corona ihren Senf dazu und machte im Handumdrehen diese zauberhafte Landschaft für Urlaubsreisende dicht – das Berchtesgadener Land ein Zentrum für Covid19.
Beim „Menkenbauer-Hof“ in Ruhpolding
Wir hatten Glück. Ganz besonders mit der Standortwahl „Ruhpolding“, unbedingt mit dem „Menkenbauer-Hof“, mit der wirklich atemberaubenden Umgebung und der kuscheligen, so liebevoll eingerichteten Ferienwohnung.
Allerdings, an den „Zwölfender“ übern Doppelbett musste ich mich erst gewöhnen. Nicht nur, weil ich der verspielten Halterkonstruktion in holzgedrechselter Handarbeit wenig Vertrauen gab, nein, auch, weil das Ganze ja schließlich mal gelebt hatte.
Wir waren quasi zu dritt im Schlafzimmer.
Dieses befremdende Gefühl schwand erst mit der Angewohnheit, dem Riesengeweih allabendlich ein „Gute Nacht – Hirsch Heinrich“ zu wünschen. So wächst Vertrauen zum Tier. Aber, das nur nebenbei.
Luftkurort Ruhpolding – Heimat des Biathlon-Weltcups
Der Luftkurort Ruhpolding war lange bevor die Chiemgau Arena Heimat des Biathlon-Weltcups wurde, ein Bergbauerndorf, deren Bewohner ihren schweren und gefährlichen Broterwerb durch Holzeinschlag und Holzhandel bewerkstelligen mussten.
Bei unseren Wanderungen sind wir nicht selten an Gedenkkreuzen mitten im Hochwald vorbei gekommen, die von Tod, Unfall und Unglück eines Waldarbeiters Zeugnis ablegten.
1619 wurde die Saline Traunstein eröffnet und damit gehörten Salzhandel und Gewinnung endgültig zum alteingesessenen Waldmeisteramt und zur Wirtschaft dieser Region.
Aus altem Haus wird eine moderne Ferienwohnung
Und dennoch war nicht zu übersehen: der Holzhandel ist ein einträgliches Geschäft gewesen. Derart riesige, mehrere Hundertjahre alte Bauerngehöfte haben wir selten gesehen. Jedes Haus mit umkränzendem Balkonen und Blumenkästen, immer mehrere Stockwerke hoch und mächtig lang gebaut, weil der Stall- und Scheunenbereich immer unter ein Dach gehörte. Für die Kinder wurde das Ganze noch extra errichtet, für die Alten auch noch ein Holzhaus und so ergab sich das Bild der verstreut liegenden Siedlungen weit um das Ruhpoldinger Tal herum.
Als der Tourismus Fahrt aufnahm, wurden die Stallungen um- und ausgebaut zu Ferienwohnungen. Jetzt stehen die Milchkannen bemalt auf der Holztreppe, die früher zum Heuboden führte, stehen die Fresskoben mit Blüten bepflanzt am Eingangstor, hängen Spitzengardinen am Luken-Fenster zum Futtergang.
Erstmal Häuser begucken
Unser erster Gang, wie immer, ist eine Erkundungstour durch den Ort, zum Markt und zur Kirche. Sofort fiel uns die angenehme Synthese zwischen Traditionspflege und gemäßigten Tourismus auf.
Jedes Haus eine Augenweide. Holzschnitzereien, Sprüche oder Inschriften an den Wänden und unbedingt eine Kostprobe der „Lüftel -Malerei“: bunte Farben, um fast jedes Fenster herum, ohne geht’s nicht. Dazu kleine Boutiquen und Cafés, viele Terrassenplätze, kaum Kundschaft, keine „Fress-Tempel“, prima!
Die Stadtkirchen St. Georg und St. Valentin
Die Stadtkirche, die Pfarrkirche St. Georg, schloss gerade ihre stattliche Holztür, ließ aber noch fix einen Blick auf barocke Deckenmalerei und auf ein wunderschönes Kreuzgewölbe zu.
Ähnlich verblüffend reich in der Innenbemalung überraschte uns die kleine Kirche St. Valentin, die wir am nächsten Tag genau am anderen Ende des Ortes fanden und die reichliche Verwendung des „Ruhpoldinger Marmors“.
Dieser Stein hat einen schönen, warmen, rötlichen Ton, man findet ihn unterwegs an Steinbrüchen und am Flussbett. Ich kam nicht umhin, ein handliches Fundstück in die Tasche zu stecken und nun thront dieser bayrische Klumpen in unserem Vorgarten.
Was sind Totenbretter?
Dort sahen wir auch zum ersten Mal die sogenannten „Totenbretter“, hier reihum um mächtige, alte Bäume gebunden, die in Nähe der Kirche standen.
Das Totenbrett stammt aus einer Zeit, in der es noch keine Särge gab. Auf einem schlichten Holzbrett wurde der Leichnam zum Grab getragen. Noch im 19. Jahrhundert war dieser Brauch weit verbreitet, die Anzahl der mit Namen und Lebens sowie Sterbedaten verzierten Bretter begrenzten zahlreich die Dorfwege zur Kirche. In die Erde gegraben waren sie bald dem Verfall ausgesetzt und so begann man, diese Bretter um anstehende Bäume im Bereich des Friedhofs, der Kirchen und Kapellen zu binden.
Am Fluss entlang
Ein herrliche Wanderweg führt an der Kirche vorbei bis zum Fluss die „Traun“, und wenn man mag – und die kleinen Brückenüberführungen zurück nach Ruhpolding ignoriert – ist man gut unterwegs bis Bibelöd, macht einen Bogen nach Vordermiesenbach und kann so seinen Rundgang zurück in das Ortszentrum schließen.
Alle Varianten an Ferienwohnungen liegen am Wege, auch das Heimatmuseum – etwas verschämt untergebracht im Seitenflügel des Jagdschlosses aus dem 16.Jahrhundert, das einem stattlichen Hotelkomplex einverleibt wurde und nichts mehr gilt. Schade.
Bitte nicht auf den Rauschberg
Der Hausberg von Ruhpolding ist der „Rauschberg“, Höhe: 1.645 m, er ist der absolute König und machte mir Angst. Man sieht ihn von überall und ich guckte von jeder Wanderroute zu ihm hin. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da gleich etwas Ungutes von oben käme. Als mein Mann entdeckte, dass eine Bergbahn zum Gipfel führt, wurden mir die Knie weich und ich beeilte mich vorsorglich im autogenen Training. Denn eins war klar, dieser Mann wollte in die Berge, und da die Möglichkeit bestand, ganz nach oben getragen zu werden, fühlte ich meine Stunde gekommen.
Gottseidank war sofort alles anders, als wir sahen, dass dort an der Bahn die Kabine im 10 Minutentrakt mit Touristen befüllt wurde, soviel nur reinpassen – nein, keine Option in Zeiten der Corona.
Sehr zu empfehlen: Sessellift am Unternberg
Eine nettere, viel gemütlichere und bequemere Variante ist der Weg zum Wanderparkplatz Unternbergbahn. Von dort geht’s fröhlich per Sessellift über die Waldesgipfel in die Höhe bis auf 1.425 m. Oben erwartete uns Touristen-Halligalli und ein Bildstock statt Gipfelkreuz. Spruch und „Lüftle-Malerei“ bezeugten, dass auch hier Nimrod sein (Un-)Wesen getrieben hat. Ich fotografierte die ganze Kunst für meinen Försterbruder und wir machten uns schnell davon.
Wanderwege gibt es dort oben reichlich, wir entschlossen uns für den Abstieg per pedes, weil unterwegs die Raffner-Alm mit bestem Terrassenausblick und feiner Brotzeit lockte!
Maria-Eck und Musik für Maria
Ein besonders schöner Wanderweg führte uns zum Kloster Maria-Eck, an der Ruhpoldinger Sommer-Rodelbahn vorbei durch dichten Wald und über abenteuerliche Bachüberquerungen. Die kleine Barockkirche am Kloster war für Besucher gesperrt, dort war eine Familienfeier im Gange, die uns – so ganz nebenbei – mit einem traditionellen, bayrischen Kulturerlebnis beschenkte: Wir hörten laute Treckfiedelmusik, Singen, Klatschen und Stampfen und rhythmisches Peitschenknallen, das absolut den Liedvortrag beherrschte.
Goaßlschnalzen – bayrisch-österreichischer Brauch
Schnell die Augen und Ohren aufgesperrt, was ist das denn? Goaßlschnalzen – hä?
Hinterher erst schlau gemacht: Was wir hören und erleben durften, ist der bayrisch-österreichische Brauch des Goaßlschnalzen. Der Name erklärt sich aus der Bezeichnung für die Fuhrmannspeitsche, Goaßl (‚Geißel‘) genannt. Schnalzen bezeichnet das laute und schnelle Krachen oder Knallen mit der Peitsche.
Vor Jahrhunderten war dieses Peitschenknallen ein Ankündigungs- oder Warnsignal der Fuhrleute, die im Laufe der Zeit spezielle Knallfolgen als individuelles Erkennungsmerkmal einsetzten. So entstanden ganz unterschiedliche Melodien, die heute als Sport und landestypische Tradition gepflegt werden.
Das Restaurant, im Sommer sicher heftig frequentiert, lud ein mit einer Terrasse, die sich weit über das Tal öffnete und auf der wir die Einzigen waren, sehr schön, Erholung vom Feinsten.
Einmalig schön – Ausblicke am Rossfeldpanorama
Da uns der Wettergott wiederum einen Sonnentag versprach, machten wir uns per Auto auf zur Rossfeld-Panoramastraße. Diese kleine Tour ist unbedingt empfehlenswert, der Ausblick wirklich atemberaubend – kein Klischee passt besser: von dieser Hochgebirgsstraße ist ein Rundblick auf die Berchtesgadener Alpen, die Dachsteingruppe und ins Salzkammergut möglich.
Und wirklich, man weiß nicht, wohin zuerst schauen, ich möchte singen vor Begeisterung, würde mir diese gewaltige Natur nicht die Luft nehmen. Auch hier wieder – kaum Besucher!
Tittmoning verspricht mehr, als es halten kann
Tittmoning, die kleine, bereits 1234 gegründete Stadt, war uns als besonders lohnendes Ausflugsziel angepriesen worden, dem war leider nicht so.
Bis auf das Prachtstück von Rathaus am Stadtplatz und die beidseitig aufgereihten Häuser (Blendfassaden mit Grabendächern) war lähmende Ruhe. Viele kleine Geschäfte geschlossen, wir waren die einzigen Fremden.
In der Stadtinformation ließen wir uns den Weg zum Schloss weisen und da staunten wir dann doch nicht schlecht: Was für ein stattlicher Bau, tadellos restauriert, absolut gepflegt und Zeugnis vergangener Macht – welcher? Das fragte ich mich, beim Blick von den Zinnen über die Ackerbürgerstadt Tittmoning. Immerhin konnten wir beim Abstieg hinter so manche Kulisse dieser Kleinstadt spähen, entdeckten eine alte Mühle, jahrhundertealte Wohnhäuser und ich konnte im fremden Garten Äpfel klauen.
Sie lagen im Gras. Eine Katze ist Zeuge.
Hochmoor bei Inzell, gut zu Fuß zu erreichen
Das Bundesleistungszentrum für Eisschnelllauf machte den Luftkurort im Tal der Roten Traun bekannt. Die Max Aicher Arena garantiert ganzjährig rekordförderndes Eis. Auch wir wollten Siegerluft schnuppern, aber die Menschenmassen in und um das Gelände und der Gedanke an Corona gab uns ein Stopp.
Zum Glück, denn beim Ortsrundgang entdeckte ich die wohl schönsten Holzschnitzereien in den Gärten, an den Einfahrten, an den Türen, und – eine echte Überraschung, weil es von diesem Ausflugsziel nicht den geringsten Hinweis gab – Wanderwege durch das Hochmoor bei Inzell, eine Naturformation mit besondere Zauber. Sehr zu empfehlen! Wandern bis der Arzt kommt.
Unsere größte Herausforderung
Viel hätte nicht gefehlt und wir hätten schlapp gemacht, sind schließlich nicht mehr die Jüngsten, haben aber die größten Ansprüche. Angefangen mit dem Ruhpoldinger Sagenweg hatten wir die Glockenschmiede als nächste Station angepeilt.
Vorerst präsentierte sich dieser „Spazierweg“, sanft durch Wiesen und an Bildtafeln entlang als „Lesepausen-Route“. Längst vergessene Spukgeschichte, altüberlieferte Sagen werden hier anschaulich (bestens zu Nutzen für Unterricht im Freien) an den Wanderer gebracht. Nach 45 Minuten könnte man bei der „Windbeutelgräfin“ einkehren, ein traditioneller Bergbauernhof, jetzt Mekka aller Naschkatzen und sahnegeiler Kater. Nicht so recht unser Ding. Schon beim Studieren der Speisekarte klatschen Magen, Leber und Galle begeistert in die Hände: Windbeutel im XXL-Format, Kreationen aus Sahne, Konfitüre, Schokolade und Likör in reichlichen Varianten versprechen lukullisches Abenteuer.
Unser Abenteuer lag am Berg und nahm erst seinen Anfang. Ach, hätte ich doch einen Windbeutel gefuttert – im Rucksack fand sich zur späteren Rast nur ein Apfel und ein Ei.
Altes Handwerk – die Glockenschmiede
Etwas außerhalb von Ruhpolding, auf dem Weg zur Thorau-Alm, kommt der Wanderer an der musealen Anlage „Die Glockenschmiede“ vorbei.
Traditionelles Handwerk an originaler Stelle, mit Schmiedewerkstatt und Ausstellungsbereich. Hervorragende Filme geben Auskunft über die Bedeutung dieser alten Handwerkskunst, über das Leben und Arbeiten vor 200 Jahren. So dokumentiert man Arbeitsabläufe, die ausschließlich mit der Erfahrung zu Wissen, Können und zur Meisterschaft gebracht wurden – ein ganz hervorragendes Museum. Jammerschade, dass es nur von Wenigen so erreicht und geschätzt wird. Immerhin, es existiert – wer in Ruhpolding ist und schon laufen kann: nix wie hin!
Was dann folgte, war ein stundenlanger Aufstieg, immer am Bach entlang, der hier richtig an Fahrt aufnahm. Wird ja auch gebraucht, drunten, an der Glockenschmiede.
Als die Wadenmuskeln zu zittern begannen, kam das erste Hinweisschild mit gekreuzten Messer und Gabel – Hurra, die Alm ist in Sicht! Denkste! War nur ein Muntermacher, weiter ging es immer hoch, den Hochwald hatten wir schon bezwungen, man glaubte, die Engel singen zu hören. Aber nein, es waren die Murmeltiere… Wir konnten sie in Entfernung entdecken und auch ihre Wohnbauten ausfindig machen.
Auf der Thorau-Alm: Brotzeit und Bier
Die Thorau-Alm ist eine leicht erweiterte Sennerhütte in luftiger Höhe und sie hatte geöffnet. „Grüetzi“ und eine Holzbank im Freien (die Chefin ließ niemanden über die Schwelle wegen Corona) dazu Brotzeit und Bier – herrlich. Diese Rast hoch oben an der Sennerhütte – auch hier waren wir fast die einzigen Gäste – hatte rustikalen Charme und beruhigte Geist und Körper. Kein Gedanke an den Abstieg. Zum Glück, denn sonst hätte ich mich unter der Holzbank verkrochen.
Dennoch muss man ja wieder runter. Das Übel der Berge. Wir gingen es tapfer an, es bleib uns auch nichts weiter übrig. Uns begleitete der wunderschöne Hochwald, die Bäche und immer wieder die Blicke zurück ins Tal, sie sind wirklich unbeschreiblich, die Häuser, Wiesen, Straßen, Ansiedlungen winziger als die Landschaft einer Modelleisenbahn.
Allerdings wurde von diesen luftigen Höhen auch deutlich, wie sehr auch hier die Natur, die Landschaft bereits zersiedelt ist. Wie mag es vor 200 Jahren gewesen sein? Welche Wege mussten bewältigt werden?
Wie haben die Menschen den überlebensnotwendigen Kontakt zueinander gehalten? Vielmehr noch hätte ich erfahren mögen. Intensive Landschaftserlebnisse führen mich immer weiter zu der Frage: Und die Menschen? Wie lebten die Menschen hier?
Heimat- und Holzknecht-Museum
Aufschluss gäbe sicher das Heimatmuseum, wenn es dann mal geöffnet hätte oder das Holzknecht-Museum. Beide Museen lagen in ihren sehr begrenzten Öffnungszeiten zu ungünstig für einen Abstecher, was ich nun sehr bedauere. Beides sollte zur Pflichtplanung dazu gehören.
Der letzte Blick auf Ruhpolding
Zum Urlaubsende hatten wir wirklich den Eindruck, alles, was zu erlaufen ist, auch bewandert zu haben, die eingezeichneten Touren im Ortsplan gaben Auskunft über unsere Routen durchs Tal und über die Berge, was für beeindruckende Wege!
Und von überall, von den Bergen, grüßte uns der Turm der St. Georg-Kirche, zeigte uns den Weg zurück und war selbst bei der Abfahrt der letzte Blick auf Ruhpolding: „Pfüieti“ altes Haus, es war sehr schön bei euch.