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Tiergeschichten aus dem Selliner Garten auf Rügen

Blogger 6. Juli 2018Juli 12th, 2018Familiengeschichte, Fundstücke, Göhren, Rügen-Blog, Sellin, Tiere

Gartenkind aus Sellin

Ich bin ein Gartenkind. Power-Flower der Fünfziger, denn ich bin sozusagen im Kleingarten groß geworden. Unsere Eltern hatten schnell die Notwendigkeit der Selbstversorgung erkannt. Bei fünf Kindern und ihrem permanenten Gebrüll nach Nahrung war diese Erkenntnis eine grundlegende Angelegenheit, die zügig in die Praxis umgesetzt wurde. Dabei stand nicht nur die Ernährung vom Feld im Familienfokus, mitnichten, meine Mutter hatte noch andere Pläne.

Denn jedes Jahr im Mai wurde der Handwagen himmelhoch bepackt mit Sommerklamotten, Federbetten, Hausrat – mit allem, was eine Familie über die Sommermonate im Garten auf Rügen so braucht. Und unsere Wohnung, Kinderzimmer, Schlafzimmer und Wohnzimmer, wurde freigeschaufelt für den FDGB.

Profitable Gästewechsel

Was habe ich sie gehasst, diese saublöden Sommergäste vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, die sich mit einer mir widerlichen Selbstverständlichkeit in unserer Wohnung breit machten. Und blieben immer für 10 Tage, dann kam der nächste Schub. Bis heute kann ich Bettenbeziehen in Windeseile, weltmeisterlich, ich war immer dran. Meine Brüder schleppten die Wäscheberge.

„Wir haben heute Gästewechsel.“ war der Satz, der Generationen die Sommerferien auf Rügen versaute. Erst viel später habe ich erkannt, dass meine schlaue Mutter über diese Vermietung ihre finanziellen Verhältnisse auf ein ganz neues Level anhob und wir Kinder profitierten fleißig: alle meine Brüder hatten immer neue Fahrräder, wir besaßen ein Paddelboot, ich den modernsten Puppenwagen der Straße, später Rollschuhe und Trainingskleid und eine Gartenlaube, die immer größer wurde.

In der Veranda hing ein Spruchteller mit den Worten: „Wo baue ich jetzt noch an?“. Tja, mein Vater, der alte Holzwurm, kannte keine Grenzen. Auch eine wunderbar große Schaukel, die baute er uns auch. Aber, das nur nebenbei.

Kindheit auf der Insel Rügen

Viel bedeutender für mein Leben war die Kindheit im Garten. Sie währte endlos und es war immer sorgloser Sommer. Ich klaute den Hühnern die frischen Eier aus dem Nest, sammelte Teeblätter auf den Wiesen und Beeten und wenn ich Hunger hatte, sagte meine Mutter: „Such dir was!“.

Und ich fand reichlich, denn wir hatten alles, wovon der perfekteste Bio-Supermarkt heute nur träumen kann.

Und was wir als Kinder alles erlebten: Vater zeigte uns die Maulwurfsgrille und wie man sie fängt, wir hatten morgens Rehe im Garten, die wir vorsichtig wieder in die Freiheit geleiteten, wir untersuchten im Graben Blutegel und schauten den Kaulquappen zu. Und einmal war gar der Marder im Hühnerstall. Das endete nicht lustig.

Aber für uns war auch dies ein Abenteuer. Und ich bin morgens, noch vor Sonnenaufgang, ins Blumenbeet geschlichen, um zu beobachten, wie sich die Blütenblätter in der Morgensonne entfalten. Momente, die ich nie wieder vergesse.

Igel kommt zu Besuch

Und spät abends saß meine Mutter mit dem Akkordeon vor der Laubentür und sang herzerweichende Schnulzen. Mein Vater ging wortlos ab in seine Werkstatt, auch ein Abenteuerplatz ganz besonderer Art. Vor allem roch es dort immer nach frischgehobeltem Holz. Aber dann, wenn sich alle Aktivitäten legten und wir Kinder schon auf dem Strohsack lagen, dann hieß es plötzlich: „Kommt schnell, ganz leise, der Igel ist da!“. Und dann haben wir uns eiligst in der Glasveranda versammelt und zugesehen, wie er den Teller Abendbrotrest vertilgte und haben seine Krallenfüße bestaunt, die lange Schnauze, die so geschickt den Teller drehen konnte. Und wie flink er die Beine lang machen konnte – und zack – war er fort. Aber nur, um wiederzukommen, dann auch in Begleitung und später sahen wir sogar die kleinen Igelkinder, es war wie im Bilderbuch und es war ein Wunder. Denn viele Jahre kam er immer wieder bei uns vorbei, unser Familienigel.

So habe ich bis heute ein besonderes Verhältnis zum Igel und achte sehr auf dieses Tier, wenn wir unterwegs sind. Viele Male habe ich einen Igel von der Straße getragen und in die Wiese gesetzt. Einmal hatte sich ein Igel, irgendwo in einer Stadt, in einem piekfeinen Vorgarten verirrt – rundum nur Zäune und Pflasterwege. Er saß ganz verbiestert hinter dem Zaun. Mein Mann meinte zwar, der würde schon wieder alleine rausfinden, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Bin kurzentschlossen in den Vorgarten eingestiegen und habe dem Igel übern Zaun geholfen.

Igelbesuch bei uns Zuhause in Göhren

Da wundert es nicht weiter, dass auch bei uns Zuhause in jedem Sommer ein Igel seine Runden drehte und als Gartenfreund einfach dazugehörte.

Vor einigen Tagen hörte ich nebenan beim Nachbarn scharfe Kommandoworte, gerichtet an seinen Hund. Ziemliche Turbulenzen waren zu spüren und auf mein Nachfragen erzählt mir der Nachbar, sein Hund hätte einen Igel aufgespürt und ihn dabei hoffentlich nicht verletzt. Ich mag diesen Hund wirklich, er ist ein besonderes liebenswertes Exemplar, aber in diesem Falle ertappte ich mich ganz spontan bei der Äußerung: „Du blöder Köter, musste Du denn überall deine Nase reinstecken, hau bloß ab!“. Was Hund und Herrchen beleidigt taten.

Das war mir egal, ich ging auf Igelsuche.

Wie findet man einen Igel, der womöglich verletzt irgendwo im Versteck sitzt? Natürlich gar nicht.

Ich war traurig. Und stellte jeden Abend ein wenig Katzenfutter in Richtung Holzschober, wo ich ihn vermutete.

Und tatsächlich: eines Nachts war er da! Ich hörte den Teller klappern und war flink und leise im Garten, ja, da saß er, drehte sogar den Kopf und sah mich an.
Ich habe mich so sehr gefreut!

Von nun an kam er jede Nacht, pünktlich kurz nach 23 Uhr.

Meine Katze wusste Bescheid, ließ immer ein paar Bissen übrig auf ihrem Tellerchen und blieb meist sogar in der Nähe sitzen, um dem stachligen Gesellen zuzuschauen.

Ich hätte so gerne erforscht, wo er wohnt, welche Wege er nimmt, aber immer, wenn ich nachts in den Garten kam, saß der Igel bereits in einer Ecke und flüsterte: „Ick bün all doar.“. Dann fuhr er sein Fahrgestell aus und verschwand so fix, wie er gekommen war.

Und ich warte nun auf die Igelfamilie, denn mein kleines Sommermärchen geht weiter…

Was denkt Ihr? Schreibt es uns!